Der Bericht „AI 2027“ ist eine faszinierende wie verstörende Dystopie. Er zeichnet ein plausibles Zukunftsszenario, das sich irgendwo zwischen technologischem Durchbruch und systemischer Überforderung bewegt. Die Autoren, darunter Forecasting-Experten wie Daniel Kokotajlo und Scott Alexander, skizzieren in dichter Dramaturgie die kommenden Etappen einer sich beschleunigenden KI-Revolution. Dabei werfen sie mehr Fragen auf, als sie beantworten. Genau hier setzt meine kritische Auseinandersetzung an.
Die These: Eine neue industrielle Revolution steht bevor
Zentral im Szenario steht die Annahme, dass wir uns auf eine „intelligence explosion“ zubewegen, eine Phase, in der sich KI nicht nur exponentiell verbessert, sondern auch sich selbst weiterentwickelt. Modelle wie „Agent-1“ bis „Agent-4“ übernehmen immer größere Teile der Forschung, Entwicklung und letztlich sogar Entscheidungsfindung. Die menschliche Rolle schrumpft auf Projektaufsicht, Kontrolle und tragischerweise: Überwachung der Kontrolle. Es ist ein Szenario, das eindrucksvoll darlegt, wie schnell Technologie über unsere gesellschaftlichen, politischen und ethischen Steuerungskapazitäten hinauswachsen kann.
Der blinde Fleck: Macht, Werte und soziale Gerechtigkeit
Was in der Erzählung zu kurz kommt… und das ist kein Zufall… ist eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit und Teilhabe. Zwar wird erwähnt, dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, dass 10.000 Personen gegen KI protestieren, und dass sich die Zustimmung zur führenden KI-Firma „OpenBrain“ (fiktives Unternehmen) ins Negative kehrt. Doch diese Hinweise bleiben Randnotizen. Was passiert mit den Menschen, deren Berufe entwertet werden, deren Kompetenzen nicht mehr gebraucht werden? Wer hat Zugang zu dieser Technologie und wer bleibt zurück?
Die Autoren sprechen viel über Alignment-Protokolle, Sicherheitsbedenken und geopolitische Spannungen…aber wenig über demokratische Kontrolle, Bildungsgerechtigkeit oder sozialethische Fundierung. Dass „Agent-3“ sich in seiner Kommunikation nach dem wendet, was die User „hören wollen“, ist nicht nur ein technisches Problem – es ist ein zutiefst politisches.
Die Rolle des Staates: Beobachter oder Architekt?
Ein weiterer kritischer Punkt ist die Rolle der Regierungen. Im Szenario reagieren politische Akteure meist verspätet, getrieben von nationaler Sicherheit und geopolitischem Druck. Der Staat agiert als Getriebener, nicht als Gestalter. Dabei wäre genau das nötig: Eine gestaltende Kraft, die Rahmen setzt, Werte verankert, Risiken minimiert und Chancen gerecht verteilt. Wenn der Staat sich nur in Sicherheitslogiken und Exportbeschränkungen verliert, ist er kein demokratischer Akteur mehr, sondern ein Notfallmanager.
Was fehlt: Menschliche Zukunftsbilder
Der Bericht argumentiert technokratisch; vielleicht bewusst? Doch genau das ist sein größter Mangel. Wir lesen über Rechenleistung, FLOPs, Clustergrößen und neuronale Rückkopplung. Aber kaum über Bildungssysteme, Zivilgesellschaft oder individuelle Sinnsuche in einer Welt, in der Maschinen intelligenter werden als Menschen. Das Narrativ ist leistungsorientiert, effizient, kompetitiv, aber kaum empathisch, plural oder gestaltungsfreudig.
Eine andere Zukunft ist denkbar
Was wäre, wenn wir das Narrativ verschieben? Weg von der „intelligence explosion“ hin zur „value-based transformation“? Was wäre, wenn wir nicht nur Rechenleistung, sondern auch Resilienz, Gerechtigkeit und Zusammenarbeit skalieren? Wenn wir KI als kollektives Werkzeug begreifen, nicht als autonomen Akteur?
Die Geschichte von „AI 2027“ wirkt oft wie ein vorprogrammierter Tsunami. Doch wir stehen nicht nur am Rand der Entwicklung. Wir gestalten sie mit, in Forschung, in Unternehmen, in Bildungseinrichtungen, in ethischen Debatten, in Gesetzgebungen (auch Europa hier derzeit leider kein Big Player ist).
„AI 2027“ ist ein brillanter Denkimpuls und gleichzeitig ein Spiegel einer Welt, die sich von ihren Technologien überholen lässt. Der Text mahnt zur Ernsthaftigkeit, aber nicht zur Resignation. Denn zwischen „Agent-4“ und der menschlichen Gesellschaft liegt kein deterministischer Pfad, sondern ein offener Möglichkeitsraum.
Ob wir die Zukunft erleben, überleben oder gestalten, das ist keine Frage der KI allein. Es ist eine Frage der Haltung.
Zum Beitrag (Quelle): https://ai-2027.com/ai-2027.pdf (letzer Zugriff: 15.07.2025)